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Abschied

Gestern Vormittag durfte mein Onkel in die geistige Welt gehen.

Ja: durfte, denn der Schmerz über die Schicksalsschläge in seinem Leben ist für ihn wohl ins Unerträgliche angewachsen.

 

Er war ein schweigsamer Mensch, schwierig, wenig zugänglich – so hab ich ihn die meiste Zeit erlebt. Lange hatten wir gar keinen Kontakt. Da gab es Streitereien, die nicht wirklich nachvollziehbar waren. Aber so war es halt.

 

Seine große Leidenschaft war die Musik - klassische Musik, aber auch Operette und Jazz. Jeden Tag hat er mehrere Stunden Klavier gespielt. Dann war er für nichts und niemanden zu sprechen. Er hat wohl der Musik sein Leben und seine tiefsten Gefühle anvertraut, die er anders nicht äußern konnte, und er hat in der Musik Geborgenheit und Trost gefunden. 

 

Wenn ich diese Zeilen schreibe, spüre ich eine starke Betroffenheit und Resonanz.

Ich spüre den Schmerz, den er der Musik anvertraut hat und die Liebe, der er für die Musik hatte. 

Das war wohl wirklich sein Trost, seine innere Zuflucht.

 

Über sein Leben weiß ich wenig. Er hat nie darüber gesprochen.

 

Der erste Schlag, den er - wie so viele Menschen seiner Generation - hinnehmen mußte, war wohl die Bitternis des Krieges. Wie tief sind da die Seelen von Menschen verwundet worden? 
Auch eine Zeit der Gefangenschaft nach dem Krieg hat er mitgemacht.
Gesprochen hat er darüber nie. 

 

Seine Frau hat er geliebt.

Daß die beide keine Kinder haben konnten, und daß das einzige Kind kurz nach der Geburt gestorben ist, war wohl der zweite schwere Schlag, den er hinnehmen mußte. Als ein dunkler, schwerer Schatten hat sich dieses Ereignis über das Leben von beiden gelegt.

Die schmerzliche Erfahrung hat meine Tante und meinen Onkel sehr eng aneinander gebunden. Alles im Leben haben sie gemeinsam gemacht. Ich kann mich nicht erinnern, daß einer von beiden jemals etwas ohne den anderen getan hätte.

Ob die beiden den Schmerz über den Verlust ihres Kindes auflösen konnten? Ich glaube nicht. 

 

Der nächste Schlag im Leben meines Onkels, war ein Schlaganfall, den er Alter erlitten hat. Der hat ihm das geliebte Klavierspiel geraubt. Aber es blieb das Hören von Musik. Und das Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker war für ihn ein Pflichttermin.

 

Noch einen herben Schlag musste er hinnehmen. Seine Frau ist vor einigen Jahren an Alzheimer erkrankt.

Diese Krankheit hat beide von einander getrennt, denn er mußte seine Frau in ein Pflegeheim geben.

Er hat das nicht verstanden, wollte bis zuletzt nicht wahrhaben, daß diese Krankheit nicht heilbar ist.

Warum dieses Leid, warum muß ein Mensch so etwas erleben, ertragen und warum gibt es keine Hilfe?

Wofür wurde er bestraft? Das waren Fragen, die ihn gequält haben, zu Tode gequält haben, wie ich meine.

Wenn ich mit ihm seine Frau, meine Tante, besucht hab, dann saß er auf der Rückfahrt schweigend im Auto, versunken in Trauer und Schmerz über das Schicksal seiner Frau.

 

Jetzt, ganz zum Schluß seines Lebens, hat er innerhalb von ganz kurzer Zeit die Kontrolle über seinen Geist verloren, ist selbst dement geworden.

Er, der Hilfe nie hat annehmen könne, mußte sich bei allem helfen lassen.

Er, der es nicht ertragen hat, wenn seine Freiheit begrenzt wurde, mußte sich an einen Rollstuhl fixieren lassen, nachdem er beim Aufstehen vom Stuhl gestürzt ist.

Und er, der sich hinter der Mauer der Unnahbarkeit ein Leben lang versteckt hatte, mußte sich anderen Menschen vollkommen ausliefern...  

 

Gezeigt hat er nach außen von all seinen Gefühlen und Fragen, die ihn beschäftigt haben, nur wenig. So haben ihn wohl die meisten Menschen als distanziert und schweigsam, ja vielleicht auch abweisend und unnahbar erlebt.
Aber in den letzten Jahren kamen die Trauer und der Schmerz über die Krankheit seiner Frau immer wieder zum Ausdruck. Und da war auch seine weiche, verletzliche,  und so liebevolle Seite spürbar. Da habe ich Momente der rührenden Fürsorge für seine Frau miterlebt, die mich tief bewegt haben.

 

Daß ich erleben durfte, wie mein Onkel seine weiche, verletzliche und so liebevolle Seite am Ende seines Lebens immer mehr zeigen  konnte, dafür bin ich ihm sehr dankbar.

 

Sein Vater hat in einer medialen Botschaft mitgeteilt, wie wichtig es ist, die Schwäche zuzulassen. Nur wenn man die Schwäche zulassen kann, kann man wirklich stark sein.

Ich weiß nicht, wie die Botschaft meines Onkels lauten könnte?

Vielleicht: hab den Mut, dich auszudrücken, hab den Mut, deine Gefühle zu zeigen, hab den Mut, zu zeigen, wen und wie sehr du liebst, hab den Mut, verletzlich zu sein und die Verletzungen zu zeigen, hab den Mut schwach zu sein.

 

Ich wünsche meinem Onkel, daß er auf dem Weg ins Licht gut begleitet ist und daß die unendliche Liebe seinen Schmerz und seine Wunden heilt.

 

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